07.10.2023, 21.00 Uhr 5 min
Mohammed Salem / Reuters
Mit dem Überfall palästinensischer Kämpfer auf israelische Grenzorte hat der Gazastreifen am Samstag seinen Ruf als gefährlicher Gewaltherd bestätigt. Bei den palästinensischen Angriffen sind bereits mehr als 700 Israeli ums Leben gekommen und Dutzende entführt worden. Die Regierung Netanyahu will harte Vergeltung üben und hat sofort eine Militäraktion gegen die Urheber im Gazastreifen gestartet. Damit steckt die Region in einem weiteren Krieg zwischen Gaza und Israel: Es ist bereits der fünfte grössere Waffengang seit 2008, abgesehen von regelmässigen kleineren Schlagabtauschen.
Todesopfer im israelisch-palästinensischen Konflikt seit 2005
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Wie konnte es geschehen, dass der Gazastreifen zu einem derart notorischen Brennpunkt wurde? Manche Weichen für diese Fehlentwicklung wurden im vorletzten Jahrzehnt gestellt, aber die Ursachen reichen viel weiter zurück.
Seine heutige Form erhielt der Gazastreifen 1948 als Resultat des ersten arabisch-israelischen Krieges. Bei diesem ging es um die gewaltsame Aufteilung des zuvor von Grossbritannien verwalteten Mandatsgebiets Palästina. Da die arabische Militärkoalition ihr Ziel, die Zerstörung des eben erst gegründeten Staates Israel, nicht erreichte, konnte sie nur Teile Palästinas besetzen. Jordanien annektierte das Westjordanland, während Ägypten die Kontrolle über einen 40 Kilometer langen Streifen am Mittelmeer erlangte - den heutigen Gazastreifen.
Das Territorium hätte nach arabischer Vorstellung zum Teil eines neuen Staates Palästina werden sollen, zu einer Heimstatt der in der Region ansässigen oder hierhin geflüchteten palästinensischen Araber. Doch Gaza blieb unter ägyptischer Kontrolle, bis es 1967 im Sechstagekrieg von Israel besetzt wurde. In den Friedensplänen für die Region spielte es seither eine zentrale Rolle.
Das Osloer Friedensabkommen von 1993 sah vor, den Palästinensern auf dem Weg zum eigenen Staat zunehmende Autonomie in den israelisch besetzten Gebieten zu übertragen. So gelangten 65 Prozent des Gazastreifens unter Kontrolle der neugeschaffenen Palästinensischen Autonomiebehörde, während Israel zum Schutz der eigenen Grenzen und der israelischen Siedler in der Region Gaza die restlichen 35 Prozent behielt.
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Der Osloer Friedensprozess scheiterte jedoch, und so setzte Israel nach der Jahrtausendwende unter Ministerpräsident Ariel Sharon nicht mehr auf fruchtlose Verhandlungen, sondern schuf auf eigene Faust territoriale Fakten. Sharon war zur Überzeugung gelangt, dass die Kontrolle über Teile des Gazastreifens mehr Risiken als sicherheitspolitischen Nutzen mit sich brachte. Seine Regierung räumte alle israelischen Siedlungen im Streifen, zog ihre Truppen zurück und überliess das Territorium ganz der Palästinensischen Autonomiebehörde.
Der pragmatische und weitherum gelobte Schachzug stellte sich jedoch bereits im folgenden Jahr in neuem Licht dar: Bei den Legislativwahlen im palästinensischen Autonomiegebiet errangen nicht die gemässigten, verhandlungswilligen Kräfte die meisten Stimmen, sondern die terroristische Islamistenpartei Hamas. Diese hat das Existenzrecht Israels nie anerkannt und fiel damit als Verhandlungspartner ausser Betracht.
Es folgten blutige innerpalästinensische Wirren, deren Höhepunkt 2007 die Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen war. Seither sind die Palästinensergebiete nicht nur geografisch, sondern auch politisch zweigeteilt: Im Westjordanland herrscht die Autonomiebehörde unter Präsident Mahmud Abbas, in Gaza die Hamas.
Spätestens damit wurde der Gazastreifen zum Pulverfass. Es kommen dort mehrere explosive Faktoren zusammen:
Imago
Israel hat mit dem Rückzug aus dem Gazastreifen von 2005 die erhofften sicherheitspolitischen Dividenden nicht errungen. Die Spannungen entlang der Grenze sind konstant hoch und entladen sich regelmässig in gewaltsamen Schlagabtauschen oder grösseren Militäraktionen. Die erste Krise gab es bereits wenige Monate nach dem Hamas-Sieg von 2006: Bei einem Überfall von militanten Palästinensern, die über einen Tunnel auf israelisches Gebiet vordrangen, fiel der Hamas ein israelischer Soldat in die Hände. Sie hielt ihn jahrelang als Geisel.
Vier grössere Kriege fochten Israel und die Hamas seither aus:
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In all diesen Kriegen hat Israel die Bedrohung durch bewaffnete Palästinensergruppen nie beseitigen können, sondern nur vorübergehend eingedämmt. Die von Israel getöteten Kaderleute der Hamas und des Islamischen Jihad erwiesen sich alle als leicht ersetzbar. Die zugrunde liegenden Ursachen blieben unbewältigt, darunter die prekäre Wirtschaftslage im Gazastreifen als Nährboden des Radikalismus, der Zufluss von Waffen und das Ausbleiben ernsthafter Friedensverhandlungen.
Unauflösbar blieb dabei auch der immer gleiche Zielkonflikt: Auf der einen Seite versucht Israel mit der Abriegelung des Streifens und gezielten Schlägen gegen Hamas-Militäreinrichtungen die Bedrohung zu neutralisieren, auf der anderen Seite führt das damit mitverursachte Leid in der Zivilbevölkerung zu neuem Hass, und die Isolation des Gebiets vertieft dessen wirtschaftliche Perspektivlosigkeit.
Sowohl im August 2022 als auch im Mai dieses Jahres sah sich Israel zu weiteren, kleineren Militäraktionen gegen Ziele im Gazastreifen gezwungen. Nun, am 7. Oktober, liess es sich durch einen präzedenzlosen Grossangriff der Hamas überrumpeln. Eine neue Spirale von Gewalt und Vergeltung hat damit begonnen, diesmal allerdings mit einem noch nie erreichten Ausmass und mit noch unabsehbaren Folgen.